VITA DELLA CONGREGAZIONE

Der Camino macht Schule

Das Gymnasium Leoninum auf dem Weg nach Santiago
Ziel und Konzeption der Pilgerfahrt

Heiner Wilmer, scj

Vom 13. bis zum 21. Juni 2000 brach das Gymnasium Leoninum in Handrup im Emsland in Bussen mit 1089 Personen (881 Schüler und 208 Begleiter und Busfahrer) zum 2300 Kilometer entfernten Santiago de Compostela in den Nordwesten Spaniens auf. Den 730 Kilometer langen Camino von Puente la Reina nach Santiago legte die Schulgemeinschaft als Ganze an vier Tagen in Etappen zu Fuß zurück. Manche Gruppen gingen pro Tag acht Kilometer, andere fünfzehn oder zwanzig. In Santander, Burgos und in Hospital de Orbigo (bei León) übernachteten wir jeweils auf einem Campingplatz. Die letzten drei Nächte verbrachten wir in einer festen Unterkunft auf dem Monte de Gozo bei Santiago, auf der Hin- und Rückfahrt jeweils eine Nacht im Bus.

Warum nach Santiago?

Anlass war das Jahr 2000. Für uns sollte dieses Jahr nicht nur einen kalendarischen Jahrtausendsprung markieren. Als Christen bedeutete es für uns ein Heiliges Jahr. Die zweitausendste Wiederkehr der Geburt Christi sollte für uns als Ordensgymnasium in der Trägerschaft der Herz-Jesu-Priester (Dehonianer) Grund genug sein, im Schulbetrieb innezuhalten, um unsere christliche Tradition, unsere Wurzeln und das was uns trägt, ins Bewusstsein zu holen, um dann mutig nach vorn zu schreiten.

Santiago zählt neben Rom und Jerusalem zu den ältesten Pilgerorten des Christentums.

Generationen von Pilgern haben in Santiago das Grab des Hl. Jakobus, des Apostels Jesu, verehrt. Im Gegensatz zu Rom und Jerusalem bestand das Besondere an Santiago darin, dass es sich als Pilgerort über tausend Jahre am Rand der damals bekannten Welt des Mittelmeerraumes befand. Santiago lag an der Grenze der Welt, eben an Finisterre. Von daher bedeutete jeder Aufbruch nach Santiago nicht nur der Aufbruch zu einer religiösen Pilgerstätte, sondern gleichzeitig verband man mit Santiago auch die Grenze dessen, was für Menschen möglich ist. Sich auf den Weg nach Santiago begeben, bedeutete und bedeutet, sich an die Grenze des eigenen Körpers heranwagen, die Grenze des Machbaren erleben, den eigenen Mut erproben, seine eigenen Verletzungen und Ängste spüren und gleichzeitig ein Ziel vor Augen haben. Santiago meint nicht das Herumvagabundieren, der Weg ist nicht das Ziel, sondern der Weg hat ein Ziel. Dieses Ziel drückt sich letztlich in der Suche nach Gott aus. Von daher ist der Aufbruch nach Santiago im Letzten das Abenteuer in Gott.

Was meinte Pilgern für uns?

Was konnte Pilgern für eine Schulgemeinschaft heißen? Pilgern ist Nachdenken, Sonne und Regen auf der Haut spüren, mit anderen zusammen sein und gleichzeitig mit sich allein auskommen, die Sehnsucht nach tiefem Glück ernst nehmen, keine Scheu haben, nach Gott zu fragen, mit aller Wucht bitten und danken, eben leidenschaftlich das Abenteuer in Gott suchen. Ist Pilgern „in“? Ist es zeitgemäß? Pilgern ist absolut nicht normal und üblich. Aber das ist doch das Spannende, dass sich die christliche Botschaft nicht der Zeit anpasst, sondern solche Wucht besitzt, dass sie von vornherein jeder Generation etwas zu sagen hat. Der Gedanke des Pilgerns ist so alt, wie die Menschen über Gott nachdenken, Ziele haben und wie sie ihre stärksten Wünsche und Sorgen mit dem Geheimnis ihrer selbst und letztendlich mit Gott in Verbindung bringen.

Pilgern und das Profil des Gymnasiums Leoninum

Pater Johannes Leo Dehon

Die Idee zu dieser Pilgerfahrt hing unmittelbar mit dem Profil unserer Schule zusammen. Letztlich verdankt sich die Schule in Handrup dem Gründer der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester, Pater Johannes Leo Dehon. Von seinem zweiten Vornamen, Leo, leitet sich der Name des Gymnasiums Leoninum ab. Pater Dehon lebte in Nordfrankreich und eine seiner ersten Leistungen bestand darin, eine Schule in der nordfranzösischen Stadt Saint Quentin zu gründen. Er gründete eine Schule, weil er überzeugt war, dass nur eine fundierte Bildung die Menschen dazu befähigt, den Blick hochzunehmen, sich aus dem Schlammassel des Lebens zu befreien, um die Welt menschlicher für alle zu gestalten. Ein zentrales Stichwort für ihn war die Menschwerdung, die Inkarnation, wörtlich ist damit gemeint: Wie komme ich in meine Haut hinein, wie finde ich zu mir.

Auf die Schülerinnen und Schüler übertragen, heißt die Kernbotschaft unserer Schule: Wie ist es möglich, dass du nicht so wirst wie deine Mutter, dein Vater oder einen Star nachahmst, sondern vielmehr ganz du selbst? Unter welchen Bedingungen ist es möglich, dass du im Prozess deiner Menschwerdung zu einer eigenständigen Persönlichkeit wächst?

Ein Gespür für das Innere der Welt und den eigenen Körper

Weiterhin lautet dann die Botschaft an die jungen Menschen: Damit du zu dir und zu deiner eigenen Bestimmung findest, sind unter anderem zwei Punkte in dieser Schule entscheidend. Zunächst einmal sind da deine Lehrerinnen und Lehrer, die deinen Weg begleiten. Die Betonung liegt auf der Begleitung. So sollen sie nicht vor dir hergehen und dir den Blick versperren. Vielmehr gehen sie an deiner Seite, sozusagen Schulter an Schulter, damit dein Blick frei bleibt. Ihre Aufgabe ist es, dir das Geheimnis des Lebens zu zeigen und dich in dieses Geheimnis einzuführen. Die Lehrerinnen und Lehrer sind an dieser Schule Mystagogen. Als Mystagogen führen sie dich heran an das, was die Welt im Innersten zusammenhält, an die Erkenntnis, dass hinter dieser Welt ein Schöpfergott steckt, dem wir alles verdanken. Diesen inneren Bezug von Schöpfer und Schöpfung, von Künstler und Kunstwerk, den Menschen zu vermitteln, gehörte zum zentralen Anliegen der Botschaft Jesu, einer Botschaft, welche die Brüder Johannes und Jakobus derartig ereiferte, dass sie ihr gesamtes Leben umstellten und Jesus selbst dieses Brüderpaar aus Galiläa aufgrund ihres Eifers „Donnersöhne“ nannte.

Deine Lehrer werden dir beibringen, dass nicht nur der Religionsunterricht, sondern alle Fächer etwas über die gewaltige Schöpfung und damit auch etwas über den Architekten sagen können, der hinter dem Bau der Welt steht. Hier liegt auch der Grund, warum im Schuljahr 1999/2000 die unterschiedlichsten Fächer im Unterricht einen inhaltlichen Beitrag zur Pilgerfahrt leisteten. So habt ihr euch in Physik befasst mit der Konstellation des Sternenhimmels über dem Nordwesten Spaniens, in Biologie mit der spezifischen Vegetation in Spanien, in Sporttheorie mit der Belastung des menschlichen Körpers, im Lateinleistungskurs mit dem mittelalterlichen Pilgerbuch „Liber Sancti Jacobi“, in Kunst mit der Architektur der Kathedralen, die sich auf dem Camino befinden, in Französisch mit Erfahrungen unterschiedlicher Pilger, in Chemie mit der Wirkung von Weihrauch als Drogat oder mit der Herstellung von Salben gegen Fußblasen, in Musik mit der Komposition eines eigenen Pilgerliedes, in Erdkunde mit der Auswirkung des zunehmenden Tourismus in Nordwestspanien auf die Infrastruktur der Region, in Geschichte mit der historischen Bedeutung des Caminos oder mit der politischen Relevanz des Reliquienhandels usw.

Neben der Einführung in die Vielfalt der Welt lehren deine Lehrer dich, dass dein Körper etwas ganz Besonderes ist, nämlich ein kostbarer Schatz. Dein Körper ist - wie der Apostel Paulus sagt - Tempel Gottes. In dir wohnt Gott selbst, sein heiliger Geist, mit dem du be-geistert bist. Deshalb sind wir immer wieder dazu angehalten, sehr respektvoll mit dir umzugehen. Das Pilgern in einer großen Gemeinschaft bietet die Möglichkeit, ein Feld zu schaffen, auf dem in verdichteter Weise der Wert der gegenseitigen Respektnahme erfahren und dem eigenen Körper nachgespürt wird.

Zusagen machen, nicht Moral predigen

Dann ein zweiter Punkt. Den Lehrerinnen und Lehrern soll es in erster Linie nicht darum gehen, dir zu sagen: Dies ist erlaubt und das nicht. Oder dieses musst du tun und jenes sollst du lassen. Vielmehr kommt es am Leoninum zunächst darauf an, dass wir alle dir vermitteln, dass du bereits ein wundervoller Mensch bist, dass andere Menschen sich freuen, wenn sie dich sehen, dass dein charmantes Lächeln andere begeistert. So wie du die herrliche Natur in Nordspanien bewunderst, so darfst du von Schönheit deiner selbst fasziniert sein.

Denn du bist schon Salz der Erde, du bist schon Licht der Welt. Du musst dich nicht erst noch ändern, damit du dann mal Salz oder Licht werden kannst. Es geht also nicht um einen Imperativ, um Moral, sondern um einen Indikativ, um eine Zusage. Wir glauben an das Spezielle in dir, nicht einfach an das Gute. Auf der Basis des Evangeliums und einer christlichen Wertorientierung versuchen wir deine besten Charakterzüge zu verfeinern, deinen Verstand zu schärfen und deiner Phantasie sogar noch Flügel zu geben.

Der Welt ein Herz geben

An die Schülerinnen und Schüler gerichtet würde Pater Dehon jetzt sagen: Wir sind davon überzeugt, dass ihr in der Lage seid, der Welt ein Herz zu geben. Es geht darum, dass ihr erkennt, dass ihr ein klein bisschen wie Gott seid, eben ihm ähnlich. So soll jeder das Beste in sich entdecken und das Beste aus sich herausholen, aber zum Wohle des Anderen. Dabei achtet der Stärkere auf den Schwächeren und übernimmt für ihn Verantwortung.

Deshalb war es auf der Pilgerfahrt wichtig, füreinander Verantwortung zu übernehmen. Für die Aufteilung der Busse wurde in der Regel das übliche Klassenprinzip durchbrochen. Eine Busgemeinschaft setzte sich zum Beispiel aus Schülern der Klassen 7, 8 und 11 zusammen. Erstmals wurde dieses Prinzip auf der Vorfahrt der Santiago-Beauftragten im Herbst 1999 erprobt. Die Santiago-Beauftragten waren Schüler und Schülerinnen, die Anfang des Schuljahres 1999/2000 von ihren Klassen bzw. Tutorengruppen gewählt worden waren. Ihre Aufgabe hatte darin bestanden, eine Mittlerrolle einzunehmen und den anderen Schülern aus erster Hand vom Camino zu erzählen. Als diese gut 40 Schülerinnen und Schüler im Oktober 1999 zur Vortour aufbrachen, hatte sich zum ersten Mal in der Geschichte des Leoninum eine Gruppe auf den Weg gemacht, die sich aus Schülern von Klasse 5 bis Klasse 13 zusammensetzte, von denen die meisten sich zuvor nicht gekannt hatten. Diese Gruppe übernahm nicht nur eine besondere Verantwortung für die daheim gebliebene Schulgemeinschaft, sondern bereits nach kurzer Zeit entwickelte sich zwischen den Mitgliedern dieser Gruppe eine bis dahin ungekannte Verantwortungsbereitschaft: Die jüngeren Schüler verdutzten die älteren mit ungewöhnlichen Einfällen und die älteren passten bei den Erkundungen in größeren Städten auf die jüngeren auf. Eine mitfahrende Lehrerin berichtete später, dass während einer sehr strapaziösen Busfahrt ein 11-jähriger Junge auf dem Schoß einer Oberstufenschülerin friedlich eingeschlafen war.

Verantwortung für andere übernahmen aber auch ehemalige Schüler, Eltern und Freunde der Schule. Einige betreuten auf der Pilgerfahrt im Juni diesen Jahres Busgruppen, andere versorgten die Schüler im medizinischen Bereich, wieder andere kümmerten sich um die Küche oder um die Schwerstarbeit beim Lageraufbau. Denn die Talente, die einen auszeichnen, gehören nicht ihm selbst. Immer geht es dabei, die anderen im Blick zu haben und auf sie zuzugehen. Wenn man das Wort „Mission“ wörtlich nimmt, als ein Gesandtsein zum Anderen, dann legen wir Wert darauf, dass wir in Handrup durchaus eine Missionsschule sind.

Theologie vor Pädagogik

Kurzum: An dieser Schule geht die Theologie der Pädagogik voraus. Die Rede mit Gott und die Rede über Gott bestimmt die Perspektive, aus der heraus wir Erziehung gestalten. Für die Pilgerfahrt selbst hieß dies, dass der Aussendungsgottesdienst auf dem Schulhof in Handrup, der Eröffnungsgottesdienst am Strand von Santander und der Abschlussgottes-dienst in der Kathedrale von Santiago jene drei liturgischen Eckpunkte bildeten, zwischen denen nicht nur die zahlreichen Morgen- und Abendimpulse, Meditationen und kleineren geistliche Einheiten eingespannt waren, sondern auch das Laufen auf dem Camino, die Begegnung mit den Pilgern anderer Nationen, die Spiele auf dem Campingplatz oder das Tanzen bei den Musikveranstaltungen am Abend.

Und noch einmal an die Schülerinnen und Schüler gerichtet: Im Umgang mit euch, den Schülerinnen und Schüler, ist es unser Ziel, dass ihr mit beiden Beinen auf dem Boden steht, euch dabei in euren Träumen so ausstreckt, als könntet ihr mit der Stirn die Sterne streifen. Es kommt uns darauf an, dass ihr die eigene Gottebenbildlichkeit erkennt, ihr entsprechend Verantwortung übernehmt und den großen Garten der Welt bestellt. Deshalb konnte auch Santiago nie der absolute Endpunkt sein. Santiago war nur ein Punkt, der die Möglichkeit bot, sich zu sammeln und sich neu auszurichten. Entscheidend bleibt die Rückkehr nach Deutschland und damit der Einsatz in der Welt.

Das übergeordnete Ziel der Pilgerfahrt

Als übergeordnetes Ziel der Aktion waren vier Punkte hervorgehoben worden: Den kulturellen und spirituellen Horizont von Schülern und Lehrern über das gemeinsame Erleben zu bereichern; zu erfahren, inwieweit die Religion, in die wir hineingeboren wurden, immer noch Tröstungen und Gewissheiten bereithält; die zweitausendjährige christliche Tradition als Fundament unserer Erziehung und unserer Demokratie ins Bewusstsein zu heben. Und nicht zuletzt sollte angesichts religiös-fundamentalistischer Tendenzen in Europa die Pilgerschaft als gemeinsame religiöse Erfahrung aller Glaubensrichtungen betont werden - ob Christen, Juden oder Muslime. Insofern wollten wir unser Projekt auch als einen Beitrag zur Völkerverständigung und zum Frieden verstehen.

Möglich wurde dieses Projekt, weil alle Beteiligten sich auf einander eingestellt und zusammengearbeitet haben: Schüler, Lehrer, Eltern, Ehemaligen, das Reiseunternehmen Hans Höffmann aus Vechta, sowie viele weitere Freunde und Gönner des Leoninum.

Reduzierung der Kosten

Vielfältige Maßnahmen und Zuwendungen haben die Kosten der Pilgerfahrt erheblich gesenkt. So organisierten die Schüler im Verlauf des letzten Jahres die unterschiedlichsten Aktionen: Ein Sponsorenlauf, eine Kunstausstellung, ein Doppelkopfturnier, eine Fußballmeisterschaft, verschiedene Partys der Oberstufenschüler verbesserten die Kasse entschieden. Hinzu kamen die Einnahmen aus Babysitten, dem Verkauf frischer Waffeln auf dem Schulhof sowie junger Kaninchen in der Nachbarschaft. Der Elternvorstand veranstaltete einen spanischen Abend mit Flamenco im Leoninum. Der Landkreis Emsland, die Kommunen und die Kirchen unterstützten das Vorhaben ebenso tatkräftig wie zahlreiche private Förderer, Banken und Wirtschaftsunternehmen aus der Region.

Bei den Teilnehmerbeiträgen wurden kinderreiche Familien durch einen Geschwisterrabatt entlastet, und bei persönlichen Härten half die Schule ganz unbürokratisch, denn niemand sollte aus finanziellen Gründen zu Hause bleiben. Am Ende war die Pilgerfahrt nach Santiago preiswerter als eine ganz gewöhnliche Klassenfahrt nach Berlin. So belief sich der höchste Teilnehmerbeitrag für ein Einzelkind auf 390 DM, für das erste Geschwisterkind waren es dann 290 DM und für das zweite 190 Mark. Den niedrigsten Beitrag haben die 87 Schüler der Klassen 5 dank eigener Leistungen erzielt: 270 Mark für das erste Kind an der Schule, 170 Mark für das zweite und 70 Mark für das dritte Kind. In diesen Beiträgen war alles enthalten: Fahrt, Unterkunft und Verpflegung.

Der Einsatz des Lehrerkollegiums

Besondere Erwähnung verdient der große Einsatz des Lehrerkollegiums. In bewundernswerter Weise investierten Lehrerinnen und Lehrer des Gymnasiums Leoninum neben dem üblichen Arbeitspensum viel Kraft und Zeit, um die Pilgerfahrt zu realisieren. Über eineinhalb Jahre planten sie in ungezählten Konferenzen, Sitzungen und Gesprächen sowie mit viel Arbeit im Verborgenen das Unternehmen. Ohne das Engagement des Handruper Kollegiums, das sich auf die gesamte Schulgemeinschaft und das Umfeld der Schule übertragen hat, wäre dieses Großprojekt nicht zustande gekommen.

Was bleibt?

Pilgern ist ein Spiegelbild unseres Lebens. In diesen neun Pilgertagen spiegelte sich unser gesamtes Leben in Miniatur wider. In gewisser Weise wurde in diesen neun Tagen das Innere unserer Seele nach aussen gekehrt. Denn in diesen neun Tagen ging es um den Aufbruch, um ein Wagnis. Dieses Wagnis beinhaltete einen Weg, der einem glaubhaft als lohnenswert beschrieben worden war, und ein Ziel, das laut Überlieferung den Preis der Mühe wert war.

Jeder sollte sich auf den anderen einstellen, sich zurücknehmen können auf der langen Busfahrt, warten können vor den Duschkabinen, die natürlich nie für alle gleichzeitig ausreichten. Rücksichtnahme in den kleinen Iglu-Zelten für zwei Personen und die Erfahrung von Durchhaltenkönnen bei gleißender Sonne auf dem schattenlosen Weg zählten ebenso zu den Erfahrungen wie die Einsicht, dass es zusammen leichter geht, der andere mich aufmuntert oder mir im entschiedenen Moment seine Sonnencreme mit dem höheren Schutzfaktor reicht.

Dann aber auch ein Erlebnis, das der normale Schulalltag nicht vorhält, dass nämlich das Pilgern die Unterschiede zwischen Lehrern und Schülern, Kindern und Eltern, Fremden und Einheimischen, Jüngeren und Älteren verblassen lässt, schließlich waren alle auf dem Weg, alle hatten mit der Strecke zu kämpfen, alle waren mal mehr mal weniger mit sich selbst beschäftigt, alle wollten heil ankommen, alle erfuhren ein bisschen mehr als im gewöhnlichen Alltag die eigenen Verwundungen, die Verwundungen der anderen und die Sehnsucht nach Glück und Angenommensein.

Weniger als sonst konnte man sich hier aus dem Weg gehen. Manchmal gab es Missverständnisse, Ärger, weil zum Beispiel in den versprochenen Schwimmbädern auf dem Campingplatz kein Wasser war oder die Gruppenaufteilung in der Unterkunft auf dem Monte de Gozo sich anders darstellte, als erwartet. Frust und Aggression kamen ebenso zum Vorschein wie Kummer und Angst. Und auf der anderen Seite die unglaubliche Unkompliziertheit, der Spaß aneinander, das ausgelassene Feiern können.

Und mittendrin der Abend in der Kathedrale in León. Obwohl viele Menschen in ihrer Kindheit und Jugend kaum etwas mit Barockkunst und Orgelmusik in einer Kirche anfangen können, ging von der Kathedrale in León eine elektrisierende Wirkung aus, der sich bei dem abendlichen Besuch niemand in der Schulgemeinschaft entziehen konnte. Ein Lehrer hatte die Orgel gespielt, zwei Schüler und eine Mutter hatten die Erfahrungen des Tages vor der großen Pilgergruppe gedeutet. In den Schweigeminuten schien es, als sei jeder einzelne von einem besonderen Empfinden ergriffen gewesen, für das einen Namen zu geben schwer fällt.

War es für alle eine echte Pilgerfahrt gewesen? Was die Pilgerfahrt für die Schule als Ganze bewirkt hat, vermag man wohl erst später beurteilen können. Vor allem sind andere dazu eher in der Lage als ich. Darüber hinaus glaube ich, dass die Erfahrungen für den einzelnen sehr unterschiedlich gewesen sind. Für manche mag es von Anfang an eine religiöse Fahrt gewesen sein, andere sahen zunächst das Gemeinschaftserlebnis, wurden aber in einigen zentralen Momenten doch gepackt vom Bedürfnis, mit ganzen Herzen Gott um etwas zu bitten oder zu danken, oder von der Erfahrung, im Leben getragen zu sein. Einige mögen die religiösen Momente vielleicht auch nur als notwendiges Übel in Kauf genommen haben. Gewiss aber ist, dass alle eine Erfahrung fürs Leben gemacht haben, an die sie später leicht anknüpfen können: Sei es, dass ich mir mehr zutrauen kann, als ich ursprünglich dachte; sei es die Erkenntnis, dass das Ergebnis der Arbeit einer Gruppe immer größer ist als die Summe der Leistungen einzelner; sei es die Überlegung, dass ich mir vor wichtigen Lebensentscheidungen eine Auszeit nehme, um mein Leben zu überprüfen; sei es die Erfahrung, dass von der Verankerung des Lebens in Gott unglaubliche Stärke und ungeahnter innerer Friede ausgehen.

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P. Heiner Wilmer scj (Deutsche Provinz), studierte nach seiner Priesterweihe von 1987 bis 1989 an der Gregoriana in Rom und hat 1991 in Freiburg in Fundamentaltheologie mit einer Doktorarbeit über Maurice Blondel promoviert. Im Anschluß daran setzte er mit einer auf das Lehramt an Gymnasien ausgerichteten pädagogischen Ausbildung seine wissenschaftliche Vorbereitung auf das Amt des Schulleiters in Handrup fort, das er seit 1998 bekleidet.