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P. Heiner Wilmer SCJ

 

Den Charakter zuerst Erziehungsmaximen bei Leo Dehon

Commissione Generale pro Beatificazione di p. Dehon

Curia Generale SCJ

Roma - 2004

Den Charakter zuerst. Erziehungsmaximen bei Leo Dehon

   

„Menschen bildet man heran, nicht, indem man sie zwingt, sondern indem man sie anregt.„ Dieses Wort von Lamartine benutzt Leo Dehon öfter, um ein Grundprinzip seiner Erziehung offen zu legen.

Junge Menschen übten auf Abbé Leo Dehon, den ehemaligen Kaplan von Saint-Quentin, eine Faszination aus. Einen großen Teil seines Lebens wandte Dehon sich der Erziehung zu. Sechzehn Jahre lang leitete der Gründer der Kongregation der Herz-Jesu-Priester das Kolleg Saint-Jean in Saint-Quentin, ein Gymnasium, das er ursprünglich im Auftrag des Bischofs von Soissons gegründet hatte. Aber auch nach seiner Tätigkeit als Schulleiter blieb er zeitlebens den Kindern, Jugendlichen, Schülern, Studenten und Seminaristen verbunden. Noch in hohem Alter nahm er regelmäßig an den Treffen ehemaliger Schüler teil.

Dehon wollte junge Menschen prägen, er wollte sie inspirieren, mit dem Evangelium vertraut machen. Er wollte ihnen ein umfangreiches Wissen vermitteln in Literatur, in den alten und neuen Sprachen, in den Naturwissenschaften. Das Fach Erdkunde lag ihm besonders am Herzen. Behutsam wollte er die Schüler mit den Schätzen der Kunst, der Musik und des Theaters vertraut machen. Der Religionsunterricht sollte Pflicht sein. Auch sollte die Heranbildung eines gesunden und kräftigen Körpers nicht zu kurz kommen. Vor allem aber wollte er über jede Wissensvermittlung hinaus den Charakter bilden.

Den Charakter junger Menschen umfassend zu formen, war das Kernanliegen seines Erziehungsansatzes. Davon zeugen bereits zahlreiche Briefe an die Mitglieder seiner Familie, in denen er seinen Verwandten Ratschläge im Umgang mit ihren Kindern gibt. Vor allem aber geben die Reden anlässlich der Preisverleihungen im Kolleg Saint-Jean einen guten Einblick in den Dehonianischen Erziehungsstil.

Sich um die Aspekte des Erziehungsverständnisses Pater Dehons zu bemühen, trägt in doppelter Weise Früchte, weil man nicht nur einen Einblick in die Erziehungskultur der jungen Menschen, sondern auch in die Leitungskultur der Ordensgemeinschaft gewinnt. Wie nämlich Dehon junge Menschen zu inspirieren und zu prägen versuchte, so inspirierten und prägten auch umgekehrt junge Menschen den Gründer der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester. Es lässt sich die These aufstellen, dass die Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen sowohl die Erziehungsmaximen Dehons prägte als auch den Leitungsstil, mit dem Dehon seine in den Anfängen sich befindliche Gemeinschaft der Herz-Jesu-Priester aufbaute.

Dieser Beitrag befasst sich nicht mit grundsätzlichen Überlegungen zu den Erziehungszielen Pater Dehons. Nicht die Frage, wozu erzogen werden soll, steht im Mittelpunkt, sondern wie erzogen werden soll. Es geht darum, einige seiner Maximen zur Erziehung junger Menschen vorzustellen.

 

In den Dehonianischen Archiven in Rom befindet sich eine undatierte, handschriftliche Notiz Dehons mit der Überschrift „Éducation”. Es handelt sich um wenige Seiten im DIN-A5-Format. Auf den ersten Seiten schreibt Dehon zu den Themen: „1. Sorge für den Körper„, „2. Für die Seele”, „3. Die Erziehung vor Gott„, „4. Die Erziehung für die Zukunft”.

Diese Zeilen richten sich nicht an Lehrer oder Internatserzieher, sondern an Eltern. Ich möchte die ersten beiden Punkte, in denen Dehon sich Gedanken über die Erziehung von Körper und Seele macht, vollständig zitieren, weil sie von allen Punkten am aussagekräftigsten sind, insbesondere der Abschnitt über die Seele. Dehon notiert:

I. Sorge um den Körper

1. Die Mutter soll das Kind ernähren, wenn sie es kann; wenn nicht, soll sie eine ehrliche und fromme Amme suchen, in der Sorge, dass das Kind nicht mit der Milch die Verderbtheit säugt.

2. Den Kindern einfache und gesunde Nahrung geben. Sich mehr um ihre Gesundheit als um ihre Launen sorgen.

3. Der Vater sollte sich mit der Bewahrung und dem Ausbau seiner Stellung beschäftigen. Er sollte darüber wachen,

4. dass seine Kinder arbeiten und

5. dass sie Almosen geben, was ein Segen für die Familie ist.

II. Für die Seele

1. Jeden Tag mit Eifer für die eigenen Kinder beten.

2. In allem ein gutes Beispiel geben. Skandalöse und gefährliche Bücher, Zeitungen und Bilder fern halten.

3. Ihren Geist und ihr Herz von Kindheit an zur Tugend heranbilden. Die ersten Wochen schlagen tiefe Wurzeln. Die Mutter sollte die Kinder beten lehren und ihnen die ersten Schritte im Glauben beibringen sowie sie darin einüben, die Tugenden zu leben, die Sünden zu vermeiden, Maria zu verehren.

4. Sie sollen darüber wachen, dass ihre Kinder auf den Straßen und Plätzen nicht mit anderen Kindern von weniger gutem Charakter spielen; sie sollen darüber wachen, wohin sie gehen, mit wem sie sich unterhalten.

5. Sie zurechtweisen.

Diese Seelen sind unbeschwert, unbeständig, auf das Vergnügen aus. Man muss sie mit Fürsorge umgeben, sie warnen, sie aufrichten, sie heilen.

Qui parcit virga, odit filium (Sprichwörter 3,24)

Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn.

Im Allgemeinen erreicht eine Mahnung, die zu überzeugen sucht, mehr als ein strenger Tadel.

6. Ihnen eine christliche Erziehung angedeihen lassen. Die Wissenschaft und die Tugend sind Geschwister und sollten gleichzeitig kultiviert werden.

7. Ihnen die Freiheit der Berufung lassen.

Augenscheinlich handelt es sich um eine schnell geschriebene Skizze einiger Ideen zur Erziehung, die möglicherweise als Grundlage für spätere Vorträge oder Artikel gedacht war. Es handelt sich um keinen systematischen Text und darf von daher nicht überinterpretiert werden. Dennoch deuten diese wenigen Zeilen bereits eine Richtung an, die eine erste Annäherung an Dehons Erziehungsauffassung zulässt.

Das Bild vom Menschen, das dem Erziehungsanliegen Dehons zu Grunde liegt, ist weder platonisch noch verdankt es sich dem späten Augustinus oder jenen Auffassungen, die von der Verderbtheit der menschlichen Natur ausgehen. Dem menschlichen Körper begegnet Dehon sehr aufmerksam und fürsorglich. In erster Linie ist für Dehon der Körper bedürftig. In der Erziehung - das belegen auch andere Texte - muss zuerst auf das Wohl und die Gesundheit des Körpers geachtet werden. Der Körper hat sein eigenes Recht und muss es auch erhalten. Erst danach gilt die Sorge der Seele, dem Tugendleben, der Einführung in den Glauben, der Wissensvermittlung.

In Freiheit erziehen, die zur Freiheit führt und die sich zum Beispiel in der Freiheit der Berufung äußert, ist eine von Dehons Erziehungsmaximen. Doch bevor der junge Mensch auf eigenen Beinen steht und selbstständig das Leben in die Hand nimmt, soll er eine ausgesprochene Warmherzigkeit und eine umfassende Fürsorge sowohl von der Mutter als auch vom Vater erfahren. Damit setzt Dehon sich vom Vaterbild seiner Zeit ab.

Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbrachten viele Väter immer mehr Zeit außerhalb ihrer Familien. Der Vater war nicht so sehr Hausvater, sondern primär Berufsmensch. Die pädagogische und medizinische Ratgeberliteratur konzentrierte sich zunehmend auf die Person der Mutter. Ihr allein wurde die natürliche Fähigkeit zugeschrieben, eine emotionale Bindung zum Kind zu entwickeln. Die Beschäftigung mit Kindern galt eher als „unmännlich„. Die Zuschreibung von Vernunft, Disziplin und Härte an den Mann und Vater bewirkte dessen Zuständigkeit innerhalb der Erziehung als „oberster Normenvollstrecker”, vor allem gegenüber den Söhnen.

Dagegen schreibt Dehon der väterlichen Erziehung eine eigenständige Rolle auch im emotionalen Bereich zu. Der Vater soll darauf achten, dass er seine Familie nicht nur mit einem guten Einkommen ernährt, sondern dass seine Kinder sich anstrengen, arbeiten und - und das ist überraschend - dass sie Almosen geben. Sie sollen lernen, sich in die Werke der Barmherzigkeit einzuüben. Kinder sind so zu erziehen, dass sie bereits in jungen Jahren den bedürftigen Menschen in den Blick nehmen, sich sensibilisieren für die Not, die Augen öffnen und Armut nicht nur wahrnehmen lernen, sondern auch entsprechend handeln. So soll die altruistische Erziehung zum Segen für die Familie werden. Nicht zuletzt soll der Vater zusammen mit der Mutter für die Kinder beten.

Interessant ist, welchen Aufschluss die Notizen Dehons über die Entstehung des Bewusstseins, des Denkens, der Sprache und des Charakters geben. Für Dehon scheint die Prägung über die Sinne im Zentrum der Persönlichkeitsbildung zu stehen. Das, was ein Mensch wahrnimmt, was er erfährt, bestimmt ihn. Im Mittelpunkt steht für ihn die Überlegung, dass der Mensch im Wesentlichen durch sein Umfeld, in dem er lebt, geprägt wird. Kurz: Dehon vertritt einen aposteriorischen Ansatz.

Die Unterscheidung zwischen einer apriorischen Erkenntnis, wie die Erkenntnis von Raum und Zeit, die jeder Erfahrung vorausgeht, und einer aposteriorischen Erkenntnis, die über die Sinne vermittelt wird, fehlt bei Dehon. Von den transzendentalphilosophischen Überlegungen, die seit Emanuel Kant den deutschen Idealismus und mit ihm auch pädagogische Ansätze beeinflusst haben, scheint er völlig unberührt oder völlig unbeeindruckt geblieben zu sein.

Auch finden sich bei Dehon keine Überlegungen zur Kausalität zwischen Genen und Verhalten. Die Überlegung, dass Wesensunterschiede zu einem Teil auf Vererbung, wie zum Beispiel auf psychische Prädispositionen, und zu einem anderen Teil auf Umwelteinflüsse zurückgehen, finden sich nicht in seinen Schriften.

Die im 19. Jahrhundert in Frankreich aufkommenden Fragen und Theorien von Medizinern und Psychologen scheinen Dehon eher suspekt gewesen zu sein. Eine der einflussreichsten Persönlichkeiten auf diesem Gebiet war der französische Neurologe Jean Martin Charcot (1825-1893), der Lehrer Pierre Janets und Sigmund Freuds. Tätig war er in „La Salpêtrière„, der berühmtesten Nervenanstalt des 19. Jahrhunderts, ursprünglich Armenhaus von Paris. Die experimentelle Medizin Charcots war zu dem Schluss gelangt, mystische Phänomene seien nicht übernatürlich, sondern allein psychisch begründet. Der Mystiker ist psychisch krank, mystische Erscheinungsweisen sind mit Hysterie in Verbindung zu bringen - diese These Charcots hatte die Theologen Frankreichs in einen Schockzustand versetzt. Seine Schriften zur Psyche des Menschen waren eine Sensation; sie brachten viele Erzieher zum Nachdenken, manche zum Grübeln.

Für Dehons Erziehungsmaximen spielen weder Gedanken zu einer apriorischen Erkenntnis, zu genetischen oder psychologischen Prädispositionen noch Theorien auf dem neu aufkommenden Gebiet der Psychoanalyse eine Rolle. Vielmehr verdankt sich seine Auffassung zu einem guten Teil indirekt den Gedanken Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778), obwohl Dehon dies nie zugegeben hätte, weil er die religionsfeindlichen Implikationen der Philosophie Rousseaus öfter aufs Schärfste kritisierte. Aber Rousseaus Philosophie übte einen enormen Einfluss auf die Pädagogen des 19. Jahrhunderts aus.

Als Repräsentant der Aufklärung trat Rousseau für individuelle Freiheit und gegen den Absolutismus von Staat und Kirche ein. Rousseaus Erziehungstheorie führte zu der Herausbildung toleranter und psychologisch-orientierter Methoden der Kindererziehung und beeinflusste unter anderem Pädagogen wie Johann Heinrich Pestalozzi in der Schweiz (1746 - 1827), Friedrich Fröbel (1782-1852) in Deutschland und später Maria Montessori in Italien (1870 - 1952) zu ihren Konzepten moderner Erziehung. Rousseaus Denken mit seiner leidenschaftlichen Verteidigung der Vernunft und der individuellen Rechte steht zwischen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts, die dem rationalen Denken der vorangegangenen Epoche eine stark subjektive Erfahrung gegenüberstellt. Sein emotional-subjektiver Ansatz prägte zum Beispiel Pestalozzis pädagogische Maxime vom „liebenden” Umgang mit seinen Schülern, die bis in unsere Gegenwart in die Pestalozzi-Schulen hineinwirkt. Die gleiche Maxime findet sich auch bei Dehon.

Dennoch lehnt Dehon Rousseau in seinen Schriften ab, weil er Rousseaus Vorstellung vom Naturzustand des Menschen und der damit verbundenen Ablehnung der Erbsünde nicht akzeptiert. Zurück weist Dehon die mächtige erzieherische Rolle, die Rousseau dem Staat beimisst, wenn Rousseau ihm die Aufgabe zuschreibt, die Staatsbürger zur Tugend in Übereinstimmung zum Gemeinwillen (volonté générale) zu erziehen.

Aber Dehon befindet sich - zusammen mit anderen modernen Pädagogen - in der Linie Rousseaus, wenn er maßgeblich den Einfluss der Umwelt, der Erfahrung und damit der Sinneswahrnehmung auf die Formung der Persönlichkeit betont. Ganz in dieser Tradition stehend, gilt für Dehon nicht einfach nur das Sprichwort: Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist. Wesentlich differenzierter müsste es nach Dehon heißen: Sage mir, was du isst und trinkst, was du siehst und liest, was du riechst, schmeckst und ertastest und mit wem du Kontakt hast, und ich sage dir, wer du bist.

Nach Leo Dehon wird der Mensch durch das, was über die Sinne in ihn „hineinfällt„, bestimmt. Da das, was man den Charakter und die Persönlichkeit des Menschen nennt, von der Sinneswahrnehmung ausgeht, besteht die größte Prägemöglichkeit in der Erziehung darin, über alle Informationen, die über die Sinnesorgane das Innenleben prägen, zu wachen bzw. dafür zu sorgen, dass das Kind unter guten Einflüssen steht. Dann ist es auf Anhieb einsichtig, warum für Dehon die zu lesende Literatur nicht beliebig sein kann, der Umgang mit Gleichaltrigen nicht nur dem Zufall überlassen werden darf und es nicht egal ist, welche Amme den Säugling stillt.

 

III. Keine Kasernenmentalität oder: Wie der Seele Flügel verleihen?

Auf seinen Weltreisen besuchte Pater Dehon in Washington eine Schule für junge Mädchen. Begeistert spricht er in seinen Aufzeichnungen über die Ausstattung der Schule: Man sah ein Schulmuseum, einen großen Park; jeder Schüler verfügte über eine Studierecke, ein Schlafzimmer und ein Badezimmer. Dehon ist beeindruckt: „Welch ein Unterschied zu unseren Internatskasernen!” Die Erziehung verlange geeignete Rahmenbedingungen, betont er öfter. Die Schüler sollten nicht luxuriös leben, komfortabel aber dürfe es durchaus sein.

Zu allererst hat die Erziehung auf die Gesundheit der jungen Menschen zu achten, ganz nach dem klassischen Grundsatz: orandum est, ut sit mens sana in corpore sano. „Die christliche Erziehung vernachlässigt nicht, was für die körperliche Entwicklung wichtig ist. Sie sorgt sich um die Hygiene und um Leibesübungen.„

Vor aller Wissensvermittlung legt der Schulleiter des Gymnasiums Saint-Jean Wert auf die Bildung der Persönlichkeit, er spricht von einer Schulung des Herzens und des Charakters. Viele Einrichtungen, beklagt er, bemühten sich nur um den Intellekt. Bei der Verteilung des Stundenplans diskutiere man ausführlich die Stundentafel der alten und neuen Sprachen, der Naturwissenschaften, des Unterrichts in Kunst und in Geschichte.

„Aber beschäftigt man sich genug damit, Mittel und Wege zu suchen, um bei den Kindern Qualitäten zu entwickeln, wie Standhaftigkeit, Mäßigung, Würde, Respekt, Mut, Initiative? Unterdessen wird ihr individuelles Leben mehr von dem abhängen, was sie durch ihr Herz und ihren Charakter sind, als durch das in ihrem Geist angehäufte Wissen. Manch hervorragender Schüler, den Kopf ‚ganz schön voll' - wie Montaigne sagt -, verlässt nach dem Abschluss das Kolleg, um alle Arten von Dummheiten zu begehen, die man ihm vielleicht durch eine intensivere sittliche Erziehung hätte ersparen können.”

„In Freiheit erziehen.„ Mit diesen schlichten Worten kennzeichnet Henri Dorresteijn den Erziehungsansatz Dehons. Dehon zeigt sich beeindruckt vom Kolleg der Lazaristen in Los Angelos, wo er eine Atmosphäre der Freiheit vorfindet. „Die Schüler verlassen ohne weiteres das Haus, sie können zum Theater gehen. Samstags und sonntags haben sie Urlaub. In Amerika legt man Wert darauf, dass die Kinder frühzeitig lernen, mit der Freiheit umzugehen.”

Der Kern der Erziehung ist die Religion. Gott ist das Prinzip und das Ziel aller Dinge. Nur eine Erziehung, die in den Glauben einführt und sich auf Eltern und Erzieher beruft, die für ihre Kinder beten, die mit ihnen Gottesdienst feiern und ihnen in allem ein Vorbild sind, trägt reiche Frucht. Von daher gehören für Dehon Schule und Kirche zusammen. Deutlich wird dies, wenn er in seiner ersten Rede zur Preisverleihung in Saint-Jean M. Thiers zitiert: „Eine Schule ist nur gut, wenn sie im Schatten der Sakristei bleibt.„

Eine Erziehung, die keine religiöse Orientierung bietet und vorgibt, zur Neutralität zu erziehen, ist für Dehon wie die Quadratur des Kreises. Daher weist Dehon religionskritische Ansätze in der Erziehung zurück. In seiner Chronik vom September 1903 berichtet er über einen „Vorfall” in Marseille. Dort habe M. Dautresme, Generalsekretär der Préfecture des Bouche-du-Rhône, anlässlich einer Preisverleihung vor der Schülerschaft auf die Notwendigkeit verwiesen, die junge Generation den abergläubischen Vorurteilen zu entreißen, um die zukünftige moralische Revolution vorzubereiten. Laut Dehon führt Dautresme aus:

„Diese Aufgabe ist ausschließlich durch einen konfessionslosen Unterricht erfüllbar. Damit ist nicht nur die Unterweisung durch weltliches Personal gemeint, sondern ein Unterricht, der von den großen Wahrheiten geprägt ist, die freie Gewissen bilden, Gewissen, die befreit sind von dieser christlichen Unterwürfigkeit, die den Menschen durch die bedrückende Idee seiner Schuldhaftigkeit, seiner moralischen Unzulänglichkeit erniedrigt und aus ihm einen zitternden und abergläubigen Sklaven macht. (…) Die Zukunft gehört der Wissenschaft und nicht dem Glauben. Schade für die Religion (oh! oh! im Saal), wenn die Evolution des menschlichen Intellekts sich außerhalb der Religion und trotz ihrer erfüllt.„

Die Religion aus der Schule zu verbannen, hat nach Dehon katastrophale Auswirkungen. Für das Land sei die Schule ohne Religion ein nationales Desaster, das der gute französische Sinn eines Tages einsehen werde - so Dehon.

„Bald wird es so sein, dass man jene Priester, die von der Kanzel gegen eine Schule ohne Gott predigen, nicht mehr zu einer Haftstrafe oder einer Geldstrafe verurteilt. Stattdessen wird man sie bitten, das Kreuz und den Katechismus wieder in die Schule zurückzubringen um die Gesellschaft zu retten.”

Welche Auswirkungen eine Erziehung ohne Religion hat, macht Dehon an der doppelten Erfahrung des Dichters Lamartine deutlich, der in seiner Jugend sowohl die Erziehung in einem laizistischen Kolleg als auch in einer christlichen Schule kennen gelernt hatte. Zunächst seine Erinnerung an das laizistische Kolleg:

„Wie bei den Barbaren, wo die Söhne abwechselnd in kochendes und in eiskaltes Wasser eingetaucht werden, um ihre Haut gegenüber den Wetterveränderungen unempfindlich zu machen, so wird (in einem laizistischen Kolleg) das Kind mal in den Unglauben, mal in den Glauben geworfen. Es lebt in einer Schule, die in ihrem Geist und in ihrer Ausrichtung gespalten ist. Es müsste zwei Seelen haben, es hat aber nur eine. Man reißt es hin und her und zerreißt es durch ein Ziehen in die Gegenrichtung. Unklarheit und Unordnung bringen sich in seine Ideen; übrig bleiben einige Fetzen Glauben und einige Fetzen Vernunft. Sein Glaube erlischt, seine Vernunft kühlt sich ohne das Feuer der Leidenschaft wieder ab, seine Seele trocknet aus und seine Begeisterung schlägt um in Gleichgültigkeit und Mutlosigkeit.„

Anders dagegen die Erinnerung Lamartines an seine Zeit in der christlichen Schule:

„Die ganze Kunst unserer Lehrer bestand darin, uns selbst für den Erfolg unserer Schule zu interessieren und uns durch unseren eigenen Willen und unsere Begeisterung zu leiten. Ein göttlicher Geist schien Lehrer und Schüler gleichermaßen zu inspirieren. All unsere Seelen hatten ihre Flügel wieder erhalten und flogen mit einem natürlichen Elan dem Schönen und Guten entgegen. Selbst die aufsässigsten Schüler unter uns wurden in die Höhe gehoben und durch die allgemeine Bewegung mitgezogen. In dieser Schule habe ich gesehen, wie man Menschen heranbildet, nämlich nicht indem man sie zwingt, sondern indem man sie anregt (inspiré).”

Für Dehon ist Lamartine der Gewährsmann. Die persönliche Erfahrung des Dichters ist für den Oberen und Schulleiter in Saint-Quentin ein verlässlicher Orientierungspunkt. Allerdings dürfte nicht nur aus heutiger, sondern bereits aus damaliger Sicht Lamartine in seiner dichterischen Freiheit die Erziehung der laizistischen Schule zu negativ und die Erziehung einer christlichen Schule zu positiv gezeichnet haben. In diesem Beitrag geht es weder darum, den Wahrheitsgehalt der Aussagen Lamartines zu beurteilen, noch das Erscheinungsbild des französischen Schulsystems zu prüfen. Für unsere Absicht sind diese von Dehon zitierten Passagen insofern von Bedeutung, weil sie indirekt über sein ideales Erziehungsbild Aufschluss geben.

Im Zentrum der christlichen Erziehungsmethode steht die Anregung (inspiration). Sie ist im Letzten gestiftet durch den Geist Gottes, der Lehrer und Schüler gleichermaßen beseelt. Diese vom göttlichen Geist getragene Begeisterung steckt die gesamte Schulgemeinschaft an, hält sie als Gruppe zusammen, vermittelt ihr ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine Identität. Sie verschafft der Seele in ihrem freien Streben nach Schönem und Gutem Flügel.

Der Geist Gottes ist der eigentliche Erzieher, er formt und gestaltet. Er erneuert das Angesicht der Erde, er bildet im Letzten auch Menschen heran. Dehon vertritt eine Erziehung, die aufbauend und erhebend ist, die der Seele Flügel verleiht und die dennoch realitätsnah und geerdet ist. Dieses Anliegen ist von einer ganz anderen Qualität als die noch so umfassende Wissensvermittlung.

Unmittelbar vor den Sommerferien, anlässlich der Preisverleihung, hielt der Schulleiter von Saint-Jean jeweils eine längere, programmatische Rede. In der Rede zur Preisverleihung am 31.7.1886 hält Pater Dehon vor den Schülern, Lehrern und anwesenden Gästen eine besonders leidenschaftliche Rede. Sie ist deshalb so leidenschaftlich, weil Pater Dehon an das Unterrichtsfach Erdkunde anknüpft, sein Lieblingsfach. In seiner Phantasie malt er den Schülern gegenüber aus, wie er ihnen Geographie beibringen, wie er sie an die Hand nehmen würde, um ihnen die Welt zu zeigen. Und er erläutert ihnen, welche Eindrücke diese Erlebnisse in ihrer Seele hinterlassen würden:

„Das Schöne! Welchen Grund mag es geben, von ihm eine Kinderseele fern zu halten? Ist nicht das eine für das andere geschaffen? Wer kostet das Schöne besser aus als der junge Mensch? Seine Seele dürstet nach dem Schönen. Es ist dieses junge Alter, das sich begeistert und das liebt.

Wenn ich Erdkundelehrer wäre, sagte ich den jungen Leuten: Schaut Euch diesen Globus an, der wie ein Garten der Menschheit ist, er wurde angelegt durch einen großen Künstler und seine Schüler. Der Künstler, das ist Gott; seine Schüler sind die Menschen, die Künstler dieser Erde. (…) Ich würde ihnen sagen: Nutzt eure Ferien, profitiert von euren Reisen, macht Notizen, beobachtet, vergleicht. Natürlich muss man alles mit Maß machen und darf seine Mittel nicht überschreiten. Manch einer wird nur in seiner Phantasie auf die Reise gehen, mit Hilfe einiger guter Bücher. Manch anderer, der nicht auf das Geld achten muss, wird weit reisen. (…) Übrigens, eine gut gemachte Reise, ob groß oder klein, wiegt wohl manche andere Unterhaltung und Belohnung auf. Das ist ein Studium und eins der besten. Das Gefallen an diesem Studium wiegt durchaus einen Abend im Jugendzirkel, ein Billardspiel, eine Romanlektüre auf. Die Berührung mit dem Schönen veredelt die Seele, das Schauspiel des Großartigen erhebt sie.„

Diesen Erdkundelehrer vor Augen sollen abschließend jene Erziehungsmaximen zusammengestellt werden, die bei Pater Dehon die wichtigsten zu sein scheinen. Aufgrund der tiefen Prägung Dehons durch seine Arbeit mit jungen Menschen werfen diese Erziehungsmaximen nicht nur ein Licht auf seine Pädagogik, sondern darüber hinaus auch auf seinen Leitungsstil der jungen Kongregation.

IV. Erziehungsmaximen Dehons

1. Das Kind ist ein von Gott geliebtes Wesen; seine Persönlichkeit ist heilig.

2. Die Liebe zu den Kindern ist die Grundlage der Erziehung.

3. Eine wahrhaftige Erziehung lässt sich vom Geist Gottes leiten.

4. Die Erziehung ist ganzheitlich; sie führt in den Glauben ein und in die Verantwortung.

5. Worte sind bedeutungslos, solange die Anschauung fehlt.

6. Die Erzieher sind in allem ein Vorbild. Der Einfluss der Gruppe der Gleichaltrigen ist ein wichtiger Faktor in der Sozialisation.

7. Anregung (inspiration) und Begeisterung (enthousiasme) sind die Hauptfaktoren in der Erziehung. Sie führen zum selbst-entdeckenden Lernen.

8. Die Erziehung geschieht in Freiheit.

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